Auch zehn Tage nach meinem letzten Aufenthalt ist Bad Tölz noch so angenehm wie zuletzt: die schnelle und bequeme Anreise mit der BOB bzw. BRB - die Bayerische Oberlandbahn firmiert ja seit 2020 als Bayerische Regionalbahn -, das historische Ensemble der Altstadt, wo ich mich mit Wanderproviant eindecke, und dann schließlich die Isar selbst, die sich am Startpunkt Isarkai nicht mehr hochwasserführend schlammig-braun, sondern wieder besänftigt in idyllischem Gebirgsfluss-Helltürkis präsentiert.
Los geht es am befestigten rechten Isarufer unter der vielbefahrenen Autobrücke hindurch in Richtung Moraltpark. Durch meinen Besuch im Stadtmuseum weiß ich, dass das Areal mit Kinocenter, Geschäften und Gastronomie seinen Namen von den in Bad Tölz ansässigen Moralt-Holzwerken trägt. Und tatsächlich ragt gleich hinter dem Gewerbepark am Isarufer das ausgedehnte Werksgelände auf. Was ich allerdings nicht bei meinem Museumsbesuch erfahren habe: Das Moralt-Werk ist heute ein “Lost Place”: 2016 hatte die Firma - nach 116 Jahren - ihren Abschied aus Bad Tölz verkündet. Da die lokale Verwaltung dem Unternehmen immer mehr Steine in den Weg geworfen habe, sei man quasi zu einer Standortverlagerung gezwungen gewesen, heißt es dazu in einem alten, online abrufbaren Artikel der Lokalausgabe der Süddeutschen Zeitung. Statt in Osteuropa oder in Asien hatte Moralt damals günstigere Standortverhältnisse an einem anderen exotischen Ort gefunden: Der nur 25 Kilometer entfernten Gemeinde Hausham in der Nähe von Miesbach - was es nicht alles gibt!
Mich zwingt das verfallende, weiträumig abgesperrte ehemalige Moralt-Werk jedenfalls dazu, statt entlang des Isarufers meinen Weg nun auf dem Fußweg der B13 fortzusetzen. Die Bundestraße, die von Würzburg herkommend isaraufwärts an den Sylvensteinspeichersee führt, ist leider vielbefahren und verläuft so weit von der Isar entfernt, dass ich immer nur sporadisch Ausblick auf den Fluß erhalte. Auf dem asphaltierten Fußweg komme ich zwar schnell vorwärts, doch ist das Ambiente alles andere als idyllisch, so dass ich, als ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Trampelpfad in Richtung Isar entdecke, mich für den weniger bequemen, aber dafür deutlich ruhigeren und naturnaheren Weg entschließe.
Der Trampelpfad führt direkt am Isarufer entlang, das trotz des wildflussartigen Erscheinungsbilds meistens mit einer überwucherten Waschbetonmauer befestigt ist. Die Isar verläuft hier nun in sanften Schlangenlinien und immer wieder bietet sich die Möglichkeit, zu weit in den Fluß ausgreifenden Kiesbänken hinunterzusteigen. An einer Stelle stoße ich sogar auf ein circa 50 Zentimeter hohes, von unbekannten Besuchern aufgeschichtetes “Steinmandl”, gleich daneben plätschert munter die hellblau-türkise Isar und hinter dem Uferwald zeichnen sich die jetzt immer höher aufragenden Berghügel der Voralpen ab.
Angesichts dieser Isaridylle lässt sich der Gedanke nicht vermeiden, dass jetzt eigentlich nur noch fehlt, dass plötzlich Willy Michl erscheint. Der 1950 geborene Münchner Singer-Songwriter mit Soul- und Jazzeinschlag, der sich in den 1970er Jahren als bayrischer Bluesbarde neu erfand, veröffentlichte 1979 auf seiner LP “Ois is Blues” den Songklassiker “Isarflimmern” mit der unsterblichen Textzeile “Rolling Stones im Flußbett / träumen von Lady Jane”. Später nahm der Musiker den Native-American-Namen “Sound of Thunder” an und tritt seitdem nicht nur auf Plattencovern und Promotion-Bildern mit Ledergewand und Federschmuck im Haar als “Isarindianer” in Erscheinung. Doch meine Gedanken führen zu keiner spontanen Willy-Michl-Manifestation am Isarufer und so setze ich meinen Weg fort.
Schließlich stoße ich auf Höhe der Ortschaft Obergrieß auf einen Fußgänger- und Radfahrersteg und nutze die Chance, um aufs linke Flußufer zu wechseln, wo die Wegverhältnisse besser sind. Hier verläuft nun ein Schotterweg die Isar entlang und ermöglicht es mir, wieder zügiger voranzukommen. Als sich schon die ersten Ausläufer von Lenggries zeigen, werden Wellengeräusche immer lauter und die sogenannte Isarburg kommt in den Blick. Statt einer von Menschenhand gemachten Anlage handelt es sich dabei aber um eine massive Felsformation im Flußbett, die auf einigen Dutzend Metern für tosende Gischt sorgt. Eine Schautafel am Weg erklärt, dass es sich dabei um Nagelfluhgestein handelt, das deutlich härter ist als der umgebende Kalkgrund der Isarsohle, der Wassererosion dadurch besser widerstehen konnte und so eine natürliche Barriere bildete.
Ich lasse die Gesteinsformation hinter mir und bin nun im Zielanflug auf Lenggries. Ein Ortsschild am Wegrand trägt den Zusatz “Internationale Flößerstadt” und wie ich später erfahre, handelt es sich dabei um keine Marketingfloskel der örtlichen Tourismusdirektion, sondern um eine offizielle Auszeichnung der International Association of Timber Rafting (IATR). Die 1989 in Barcelona initiierte Organisation ist der Dachverband für 39 Vereine aus insgesamt 13 Ländern, darunter Deutschland, Österreich und Tschechien, aber auch Spanien, Finnland und Kanada. Zwar hat die gewerbliche Floßfahrt auch in Lenggries spätestens mit dem Bau des Sylvensteinspeichers ein Ende gefunden, doch wird mit der 2009 erfolgten Auszeichnung durch die IATR nicht nur die Flößereigeschichte des Ortes gewürdigt, sondern auch dass sich weiterhin ein örtlicher Holzhacker- und Flößerverein der Bewahrung dieses Erbes widmet.
Über die Isarbrücke, von der aus sich ein besonders schöner Blick flußaufwärts bietet, betrete ich nun Lenggries. Überraschenderweise hat der Ort - anders als zuletzt Bad Tölz - keine spezielle Isarpromenade und auch die einige hundert Meter vom Fluß entfernt stehende, großzügig dimensionierte Barockpfarrkirche St. Jakobus strömt mehr vornehme Strenge als die sonst für den oberbayerischen Isarraum typische fröhliche Volksreligiosität aus. Doch immerhin ist mir die Kirche bereits aus einem popkulturellen Kontext bekannt: Im Intro des Liedes “Om (Do schneibts)” von Dreiviertelblut, dem erfolgreichen Mundartprojekt des Tölzer Indie-Lokalmatadors Sebastian Horn (von der Band Bananafishbones), sind die Glocken von St. Jakobus zu hören. Dabei handelt es sich um eine während des Zweiten Weltkriegs auf Schellack gepresste Aufnahme, die das Lenggrieser Geläut ein letztes Mal einfing, bevor die Kirchenglocken für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen werden mussten. Man kann die Aufnahme durchaus als einen subtilen Akt des Widerstands betrachten und auch im benachbarten Gasthaus Dorfschänke, in dem ich zu Mittag esse, ist in der Speisekarte die Geschichte zu lesen, wie die frühere Wirtin während der NS-Zeit regelmäßig vor der Militärpolizei Rekruten der im Ort befindlichen Feldjägerkaserne versteckte, wenn diese über einer Maß Bier den Zapfenstreich vergessen hatten. Auch wenn sich Lenggries auf den ersten Blick weniger einladend als erwartet zeigt, beschließe ich somit, den Ort zu mögen.
Die weitere Ortserkundung bringt mich dann noch auf die eine oder andere Spur. So befindet sich am südlichen Ortsrand das heute eine Schule beherbergende ehemalige Barockschloss Hohenburg, der Nachfolgebau einer vor drei Jahrhunderten abgebrannten mittelalterlichen Burganlage. Diese Burg mit ihrer strategischen Lage in der Mitte des sogenannten Isarwinkels - der weiten Biegung nach Westen, die die Isar zwischen Tölz und dem Sylvensteinsee beschreibt - war auch das ursprüngliche Epizentrum von Lenggries, was vielleicht erklärt, warum der heutige Ort auf mich etwas undefiniert wirkt.
Noch vor Schloss Hohenburg liegt am Ortsrand von Lenggries, ähnlich wie in Bad Tölz, eine Kalvarienberganlage. Die Bezeichnung stammt von der überlieferten Hinrichtungsstätte Jesu am Berg Golgota, welche die im 17./18. Jahrhundert auch hierzulande in Mode gekommenen Kalvarienberganlagen nachzubilden versuchen. Beim Lenggrieser Kalvarienberg handelt es sich laut dem ausliegenden Kunstführer um eine der ältesten Anlagen dieser Art in Deutschland und auch um das Vorbild für den Bau im benachbarten Tölz. In Lenggries führt eine symmetrische Treppenanlage Entlang von statuengeschmückten Kreuzwegstationen einen bewaldeten Hügel nach oben. Auf der Hügelkuppe befindet sich dann die Kirchenanlage, die mit einer Nachbildung der Heiligen Stiege in Rom beginnt. Die “Scala Santa” im Lateranpalast wurde der Legende zufolge aus dem Palast des Pontius Pilatus in die römische Hauptstadt gebracht. Wie für das Vorbild in Rom gilt auch für die Heilige Stiege in Lenggries, dass diese nur auf den Knien erstiegen werden darf. Die Treppenanlage mündet dann in eine Kreuzkapelle, außerdem gehört auch eine Nachbildung des Heiligen Grabs zu der Andachtsanlage auf der Hügelkuppe. Anders als in Tölz bietet der Kalvarienberg auf dem bewaldeten Hügel keine wirkliche Fernsicht, dafür aber eine eindrückliche stille, auch etwas mystische Atmosphäre.
Nach dem Abstieg vom Kalvarienberg statte ich schließlich auf dem Weg zum Bahnhof noch dem Lenggrieser Heimatmuseum einen Besuch ab. Zwar besteht das Museum nur aus wenigen Räumen, doch erfahre ich so noch einige weiterführende Informationen zur Geschichte des Orts und zum traditionellen Flößer-, Holzarbeiter- und Kalkbrennerhandwerk. Danach habe ich noch einmal das Vergnügen, mit der Bayerischen Regionalbahn, die hier Endstation hat, bequem nach München zurückzufahren. Doch während der Zug losfährt, komme ich nicht umhin, zu denken, dass das wohl bald anders aussehen wird: Ab Lenggries führt der Weg isaraufwärts nun wirklich in die Berge und damit in dünner besiedelte und schwieriger mit Bus und Bahn zu erreichende Gebiete. Ob sich damit der Charakter meines Wanderprojekts ändert? Ich werde es sehen.