Ob heute ein guter Tag zum Isarwandern ist? Der freundliche Wetterbericht spricht zwar dafür, doch ein gewichtiger Aspekt sorgt für Ungewissheit: Nach einem mehrere Tage anhaltenden Starkregen herrscht in Bayern eine akute Hochwasserlage. In unserem Urlaubsort in den Niederlanden hatte ich das zwar nur aus den Medien mitbekommen, doch dann verlängerte sich die letzte Etappe unserer Zugheimreise aufgrund von Überschwemmungen von regulär fünf auf ganze sechzehn Stunden. Die letzte noch passierbare Gleisstrecke nach München führte schließlich am Zusammenfluss von Isar und Amper bei Volkmannsdorf vorbei und machte eindrücklich das Ausmaß der Lage deutlich. Als ich dort Anfang des Jahres entlangwanderte, waren die mit einigem Höhenunterschied vor sich hinfließenden, eher schmalen Flüsse durch einen Damm voneinander getrennt. Nun war dieser größtenteils überflutet und hatten sich Isar und Amper zu einem breiten, dreckig-braunen Strom vereint. Und während die angeschwollene Isar immerhin noch die Dimensionen ihres Flussbetts wahrte, hatte die Amper die umgrenzenden Auen und Felder überschwemmt und eine mehrere hundert Meter breite Wasserlandschaft geschaffen. Sollte es weiter isaraufwärts ähnlich aussehen, wäre eine Fortsetzung meiner Flusserkundung keine gute Idee.
Doch es siegt die Wanderlust und so spaziere ich nach Anreise mit Bahn und Bus durch den Wald der Isar entgegen. In bewährtem Geretsried-Style wandere ich dabei auf der einst von den Nationalsozialisten für ihre Waffen- und Munitionsfabrik angelegten Betonpiste, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Namen Sudentenstraße trägt. Schilder entlang des Wegs warnen davor, die heute in den Wäldern versteckten Bunkeranlagen zu betreten und tatsächlich sehe ich nicht nur immer wieder verdächtig unförmige Erdhügel, sondern auch das eine oder andere Fragment gesprengten Betons. Die an den entsprechenden Stellen angebrachten Tafeln des “Wegs der Geschichte” informieren dabei über die einstige Funktion der Kriegsruinen. So erfahre ich auch am Ende der Betonpiste in der Nähe des Weilers Einöd, dass hier in der Nachkriegszeit bis zum Bau der neuen Isarbrücke eine Fähre die beiden Flussufer verband. Tatsächlich kann ich durch die Bäume hindurch ein wogendes, braunes Band erkennen - meine heute erste Begegnung mit der hochwasserführenden Isar.
Von den Niederungen der NS-Vergangenheit weg führt meine Wanderroute nun in teils steilem Aufstieg auf das wieder ansteigende Hochufer. Doch die Regenfälle der letzten Tage haben den schmalen Pfad in einen schlammigen Bachlauf verwandelt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine heutige Wanderung nicht lieber an dieser Stelle abbrechen sollte, beschließe dann aber doch, mich soweit es geht vorsichtig voranzutasten. Dank meiner stabilen Wanderschuhe und mich immer wieder an den in den Weg hineinragenden Ästen nach oben ziehend gelingt mir tatsächlich der Aufstieg auf das sicherlich 50 bis 60 Meter aufragende Ufer. Oben angekommen sehe ich ein vom Isartalverein angebrachtes Warnschild “Naturnaher Weg. Benutzung auf eigene Gefahr” und denke mir, dass naturnah eine schöner Euphemismus ist für die halsbrecherische Schlammpiste, die ich soeben bewältigt habe.
Immerhin werde ich für meine Mühen nun mit schönen Ausblicken belohnt. Der Weg folgt der Hochuferkante und immer wieder blitzt zwischen den Bäumen das Panorama des Isartals durch. Schließlich erreiche ich den als Malerwinkel bekannten Aussichtspunkt, so genannt weil der weite Blick auf die Isar und das Oberland in der Vergangenheit immer wieder Kunstmaler anzog. Heute präsentiert sich die von hier zu sehende Isarschleife etwas weniger idyllisch und zieht sich prall gefüllt als braunes Band durch die Waldlandschaft.
Schließlich reiße ich mich von dem Ausblick los und mache mich getreu der Devise “what goes up must come down” daran, dem absteigenden Ufer wieder nach unten zu folgen. Dabei habe ich die Wahl zwischen zwei Wegen: einem breiten Forstweg, der allerdings recht weit von der Isar wegführt oder einem weiteren “naturnahen Weg”, der flußnah steil das Hochufer herunterführt. Da es heute schon einmal geklappt hat, beschließe ich erneut, mich vorsichtig auf dem matschigen Pfad voranzutasten. Ich bewältige aufgeweichte schmale Holzstufen, den Weg immer wieder überfließende Rinnsale und überquere einen wackligen Steg über einen angeschwollenen Seitenbach der Isar - doch dann geht es nicht mehr weiter: Meine Route mündet in eine überschwemmte Wiese, so dass ich umkehren muss und auf halbem Weg in einen stabileren Forstweg einbiege.
Hier komme ich nun zügig durch den Uferwald voran und erreiche nach einige Zeit das Gelände der Jugendsiedlung Hochland. Auf einem ausgedehnten Areal befinden sich hier Blockhäuser und Zeltplätze, die gerne als Zielort für Schulfreizeiten und Ferienlager genutzt werden und die mir vage bekannt vorkommen: in der gymnasialen Mittelstufe hatte ich dort einst mit meiner Klasse ein von den Religionslehrern organisiertes (gar nicht so besinnliches) “Besinnungswochenende” verbracht. Dunkel erinnere ich mich an Lagerfeuer und eine Wanderung ans nahe Isarufer, doch über den Ort selbst ist mir nichts bekannt. Da mir der Name der Jugendsiedlung aber bei meinem Besuch im Erinnerungsort Badehaus in Wolfratshausen begegnet ist, suche ich nun online nach weiteren Informationen - und stoße dabei erneut auf NS-Geschichte: Das Gelände wurde 1936 von der NSDAP erworben, um dort das “Hochlandlager” zu veranstalten, ein von der Hitlerjugend organisiertes Großzeltlager, bei dem regelmäßig tausende Jungen unter dem Motto “Disziplin und Glaube” nationalsozialistisch indoktriniert und an militärischen Drill gewöhnt wurden. Nach Kriegsausbruch wurde das Gelände zu einem “Wehrertüchtigungslager”, in dem das NS-Regime Jugendliche zu Partisanen ausgebildete, die Anschläge auf alliierte Soldaten verüben sollten. Nach der Befreiung durch die US-Army 1945 wurde auch im ehemaligen Hochlandlager - wie in Wolfratshausen-Föhrenwald - ein Aufnahmeort für jüdische Holocaust-Überlebende eingerichtet, allerdings mit einer Besonderheit: “Die zionistische paramilitärische Untergrundorganisation Hagana richtete hier unter Billigung der amerikanischen Besatzungsmacht eine Ausbildungsstätte für Offiziere ein, die auf die erwarteten Auseinandersetzungen mit den Palästinensern im Zuge der Gründung des Staates Israel vorbereitet werden sollten”, berichtet Wikipedia. Ab 1950 richteten Träger der katholischen Jugendarbeit auf dem Gelände die heutige Jugendsiedlung Hochland ein, auch mit dem Ziel die Erinnerung an die Geschichte des Ortes zu bewahren. Eigentlich eine gute Idee und auch gerade vor dem Hintergrund von tagesaktuellen Themen wie der neuen Rechten, wiedererstarktem Antisemitismus und dem Gaza-Konflikt hochrelevant. Aber ob die Erinnerungsarbeit auch tatsächlich gelebt wird? Ich kann mich jedenfalls im Zusammenhang mit dem “Besinnungswochenende” meiner Schulklasse nicht daran erinnern.
Weiter auf meiner Wanderung isaraufwärts verlasse ich das Gelände der Jugendsiedlung und spaziere auf der asphaltierten Zubringerstraße dem heutigen Etappenziel entgegen. Noch einmal versuche ich über Trampelpfade das Isarufer zu erreichen, doch scheint der Boden in Flussnähe dafür zu durchnässt. So erreiche ich schließlich den oberhalb des Flusses gelegenen Weiler Huppenberg, von wo mich der Bus in den nächstgrößeren Ort Königsdorf bringt. Die auf einer Anhöhe zwischen Isar und Loisach gelegene Ortschaft hat zwar keinen direkten Bezug zu “meinem” Fluss, doch bietet sie Anschluss zum Bahnhof von Bad Tölz, von wo es heute nach Hause geht. Zuvor überquert der Bus noch die Tölzer Isarbrücke, wo sich ein weiterer eindrücklicher Blick auf den hochwasserführenden Fluss bietet. Neben all den mannigfachen landschaftlichen und geschichtlichen Eindrücken führt mir meine Isarwanderung damit auch eine weitere Dimension drastisch vor Augen: Den menschengemachten Klimawandel und wie stark seine Auswirkungen inzwischen sind.